Seit Jahren hatte George Xu ein China-Camp angekündigt, nun kam es endlich zustande. Über 110 Taiji-Jünger aus 12 Ländern machten mit, unterrichtet von den sieben besten Lehrern Schanghais. Ich lernte George Xu 1994 kennen, als er zum ersten Mal in unserem Verein unterrichtete. Seither kommt er zweimal jährlich, einmal allein und einmal mit einem weiteren Lehrer, den er uns vorstellt.
Die Eröffnungsveranstaltung im großen Ballsaalunseres Hotels in Shanghaiwar spektakulär. Aus jedem teilnehmenden Land gab es mindestens eine Darbietung , so dass man sich ein Bild vom Niveau der Teilnehmer machen konnte. Viele chinesiche Meister führten ihre Kampfkunst vor, nur schade, daß sich mein untrainiertes europäisches Ohr die vielen chinesischen Namen nicht merken konnte. In Erinnerung blieben mir Dr. Wang Zhi Xiang, den ich von seinen Seminaren bei unserem Verein in Taunusstein her kenne, der alte Meister Wei Chen Yuan, dem man bei der Vorführung seine 83 Jahre nicht anmerkte, obwohl er von seinem Schüler Chan Zhuen Yuan hereingeführt wurde, und Qian Zhao Hong, auch ,Kettensäge' genannt, der eine Waffenform mit einer Art Dreschflegel zeigte, sowie ein alter Meister aus Peking mit Bagua.
Die Bezeichnung China-Camp erweckt vielleicht irrige Vorstellungen von einem Zeltlager, wir waren jedoch sowohl in Schanghai als auch in Souzhou in guten Hotels untergebracht. Nur die Kaffee-Trinker hatten ihre Schwierigkeiten, sie fanden den Kaffee sehr gewöhnungsbedürftig. In Souzhou begann das eigentliche Seminar. Das Programm war hart:
7-8 Frühsport mit Meister Wu Maogai, der sich bemühte, uns Tong Bai beizubringen
8-9 Frühstück
9-12 Unterric
12-13 Mittagessen
13-15 Mittagsruhe (von den meisten zur Stadterkundung und Einkaufen genutzt)
15-18 Unterricht
18:30 - 19:30 Abendessen
19:30-21 Vortrag eines der Meister 21 - ... freie Verfügung
Am ersten Tag stellten die Lehrer den Gruppen ihr jeweiliges Programm vor:
- Qian Zhao Hong - Xing Yi der 10 Tiere
- Wei Chen Yuan und sein Schüler Chan Zhuen Yuan (63 Jahre) - Xing Yi der 12 Tiere
- Dr. Wang Zhi Xiang mit seinem Übersetzer Paul - Yang Stil Taiji
- Xu Guo Chuang - Wu Stil Taiji
- Jiang Zhong Bao - Chen Stil Taiji
- Wu Ji - Lan Shou
An den folgenden Tagen konnte jeder Teilnehmer zu dem Meister gehen, der ihn am meisten zusagte.
Jeden halben Tag durfte man wechseln, so daß man alle Lehrer gut kennenlernen konnte. Bald bildeten sich jedoch ziemlich stabile Gruppen heraus, nur wenige wechselten des öfteren den Lehrer. George schaute übrigens jeden Morgen und jeden Nachmittag vorbei. Qian Zhao Hong (Kettensäge) und Dr. Wang Zhi Xiang hatten immer die größte Gefolgschaft.
Ob große oder kleine Gruppe, alle waren des Lobes voll von ihrem Meister. Diese zeigten sich offen und mitteilsam, ließen sich anfassen und brachten ihren Schülern etwas bei, was einige bei der Schlußfeier mit ihrer Gruppe demonstrierten.
Ich trainierte die ganze Zeit bei Dr. Wang. Zum einen, weil er im September 2005 wieder nach Taunusstein kommt und ich dann übersetzen werde, zum anderen wegen seiner Form, an der ich noch viel zu lernen habe. Außerdem hatte er in Paul einen Übersetzer, der mit der Materie völlig vertraut war und problemlos zwischen chinesisch, englisch, französisch und deutsch wechselte. So war ein entspanntes Lernen gewährleistet, ohne den Stress von Organisation und Übersetzung.
Dr. Wang nutzte die Gelegenheit, uns die wesentlichen Prinzipien des Taiji in Theorie und Praxis zusammenhängend zu vermitteln. In Seminaren kann dies an einem Wochenende sonst nur in Bruchstücken behandelt werden. Insbesondere lehrte er das Prinzip des ba men- der 8 Tore (der 8 Trigramme) und wu bu , der 5 Elemente. Die 8 Tore kann man sich als alle denkbaren Richtungen vorstellen: oben und unten, vorne und hinten, rechts und links sowie innen und außen. Diese 8 Richtungen müssen in jeder Bewegung vorhanden sein, Bewegungen in nur eine Richtung sind falsch, denn eine Richtung geht in den 8 verloren. Am schwierigsten dabei sind Bewegungen nach innen und außen.
Die Energie muss sich nach allen 8 Richtungen ausbreiten. Nur wer frei von Spannungen ist, kann darin Erfolg haben.
Das vollständige Training des Taiji besteht aus 5 Teilen:
- Grundlagenübungen, welche die notwendige Koordination, Kraft und Beweglichkeit entwickeln, um mit dem Körper zu arbeiten
- Die Form, das heißt die Abfolge von langsamen Bewegungen, welche zum einen den Körper von Spannungen befreit indem sie seine Gewohnheiten durch andere, neutralere ersetzt, zum anderen das Gefühl für Energien entwickelt und schließlich ganz allmählich einen in Bezug auf Energie integrierten Körper schafft, wenn man mit ihm unter zunehmender Beteiligung des yi (des Bewusstseins) arbeitet.
- Tuishou (push hands), die Partnerübung, die es möglich macht, zunächst die innere Kraft (nei jing) anstelle der Muskelkraft einzusetzen, und später das Nei jing durch das yi qi zu ersetzen. Auf der Ebene des nei jing benutzt man noch die verschiedenen Kampftechniken, auf der Ebene des yi kommen Techniken nicht mehr in Frage.
- Sanshou: freie Partnerübung, die den Kampf simuliert und der die Anwendung dessen beinhaltet, was im tuishou gelernt wurde. Dazu kann man noch das da lü zählen, eine Partnerübung mit mehr Regeln, bei welcher der Körperstandpunkt verändert wird.
- Und schließlich das intellektuelle und geistige Verständnis der Prinzipien des ba men wu bu (welche tatsächlich ein Grundlegendes Prinzip des Lebens und des Universums darstellen). Nur dieses Verständnis erlaubt es, ein höheres Niveau des taiji chuan zu erreichen und seine praktische Anwendung auf andere Lebensbereiche auszudehnen.
In der Praxis wurden die Punkte 1 - 4 behandelt, Punkt 5 spielte immer eine Rolle. So wurde uns die Bedeutung des ba men wu bu klar, das richtige Verständnis davon erfordert lebenslange Arbeit. Großen Wert legte Dr. Wang auf die Grundlagen, die jeden Morgen und jeden Nachmittag geübt wurden, bevor er mit seinem Stoff fortfuhr. Die lange Form des Yang-Stils wurde vollständig behandelt, tuishu und sanshou kamen auch nicht zu kurz.
Dr. Wang gab uns sehr viele praktische Hinweise, die ich hier unmöglich alle aufführen kann. Der Wichtigste ist vielleicht die Reihenfolge der Bewegung: erst yi, dann Energie, dann Körper. Im Körper gilt die Reihenfolge Hüfte, Schulter, Hand. Ein Ungeübter dagegen agiert direkt mit der Hand.
Die abendlichen Vorträge der Meister waren durchweg sehr interessant, sie alle hier zu referieren würde zu weit führen. Ich fand es bemerkenswert, dass alle neben den Besonderheiten ihrer Stilrichtung vor allem die Wichtigkeit der Grundlagen betonten. Darin waren sie sich alle einig.
Ein Höhepunkt des China-Camps war die Gründung der Worldwide Association of Chinese Internal Martial Arts . WACIMA hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein besseres allgemeines Verständnis der internen Kampfkünste bei ihren Anwendern und allen Menschen zu fördern, so daß diese Künste erhalten und auf dem ganzen Globus praktiziert werden.
Nicht nur das Niveau der Lehrer, auch das der Teilnehmer war sehr hoch. Nachdem die lokale Presse über das Seminar bereichtet hatte, forderten die Spitzen der Kung Fu-Vereinigung von Souzhou unsere Lehrer zu push hands heraus. Doch George erlaubte dies nur uns Schülern. Daraufhin kämpfte der Schüler des besten Kung Fu-Meisters mit einem von uns, er konnte den Kampf jedoch nicht gewinnen. Daraufhin versuchte es der Meister, doch auch er schaffte es nicht. Zugegebenermaßen hätte das nicht jeder von uns gekonnt, ich auch nicht.
Fazit: Das China-Camp mit George Xu war äußerst interessant und lehrreich. Es war sogar einzigartig, denn dass sieben Meister gemeinsam ein Seminar bestreiten ist wohl noch nie da gewesen. Normalerweise ist es üblich, dass Schüler gewöhnlich nur bei ihrem Meister lernen dürfen. Sieben große Meister in einem Taiji-Camp, dies ist bisher nur George Xu gelungen.
Tai Chi Journal des Netzwerks